Die ÖVP steht in der „schwersten Krise ihrer Parteigeschichte“, konstatierte der Politikwissenschaftler und ÖVP-Kenner Fritz Plasser am Sonntag. Die Inseratenaffäre stürzte die Regierung in eine schwere Krise und führte zum Rücktritt von Sebastian Kurz als Kanzler. Über Wege aus dieser Krise diskutierten Plasser, Landwirtschaftsministerin und Kurz-Vertraute Elisabeth Köstinger, der frühere ÖVP-Chef und EU-Kommissar Franz Fischler und NEOS-Gründer Mathias Strolz in der ORF-Sendung „Im Zentrum“ (bis 24.10.2021 unter diesem Link abrufbar).
Für Fischler ist nach allem, was über die Chats und Ermittlungsunterlagen der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft ans Licht kam, klar, dass das „System Kurz“ „so unakzeptabel ist“. Die ÖVP könne „nicht so bleiben, wie sie jetzt unter Kurz ist“, sie müsse einsehen, „dass dieses Modell nicht funktioniert“. Aber auch zur „alten ÖVP“ zurückzukehren wäre für Fischler keine Lösung, sondern „das Ende der ÖVP“. Es gelte, Vertrauen zurückzugewinnen, Strukturen zu ändern, und „wieder mehr in Richtung Gemeinschaft zu denken“, damit sich „nicht die gesamte ÖVP in einer schmalen Gruppe junger Leute erschöpft“.
Strolz: ÖVP muss sich an Haut und Haaren erneuern
Drastisch fiel der Befund von Ex-NEOS-Chef Strolz aus – der 2016 mit Kurz und Irmgard Griss über eine gemeinsame Wahlplattform verhandelt hat. Ihn entsetzte damals die kaltschnäuzige Ansage des 30-jährigen Kurz, dass er „lügen kann“ (konkret Medien anlügen über diese Verhandlungen). Bis heute ist Strolz überzeugt, dass „Lüge bei ihm ein Standardinstrument ist“, Kurz „nicht integer handelt“, eine „Kunstfigur“ aufbaute, und dass hinter dem „hochpolierten Lack wilde Abgründe lauern“.
So ist Strolz‘ Rat an die ÖVP denn auch: Sie müsse erkennen, dass „eine kaltschnäuzige Karrieristenclique die Kontrolle übernommen hat“ und Kurz auch als Partei- und Klubobmann nicht haltbar sei. Die ÖVP müsse sich „an Haut und Haaren erneuern“. Es müsse sich jemand finden, der „entschlossen in die Führung geht“. An Köstinger und die anderen Mitglieder des Kurz-Teams appellierte er, „den Weg frei zu machen“ – und er sagte der Kurz-Vertrauten ganz unumwunden seine Meinung: „Elli, es ist vorbei, es ist vorbei.“
Das sah Köstinger, die dem „innersten Kreis“ des Ex-Kanzlers angehört, nicht so. Kurz und sein Team hätten „schon die klare Vision, den klaren Anspruch, dieses Land zu gestalten, genau das wollen wir weiter tun“. Sie sieht die Partei weiter „geschlossen“, wenngleich es freilich „viel Verunsicherung gibt“. Das Allerwichtigste sei jetzt, „Vertrauen wieder aufzubauen, für Stabilität zu sorgen und alles zu tun, dass es in der Partei Geschlossenheit, Richtung, inhaltliche Diskussion und auch ein Aufarbeiten gibt“.
Was die Ermittlungen gegen Kurz und andere betrifft, brachte Köstinger die bekannten Verteidigungsargumente vor. Sie halte „diese Heuchelei und Doppelmoral fast nicht mehr aus“. Da gehe es doch um Menschen, manchmal würden einem Dinge herausrutschen, die man bereut. Dann entschuldige man sich und rede die Sache aus. Wenn das nicht geht, könnte doch „niemand, der einmal einen Kraftausdruck verwendet hat, jemals wieder eine Führungsfunktion im Staat oder einer Partei haben“.
Plassers Empfehlung an die ihm sehr gut bekannte Volkspartei ist, sich „in großer Sorgfalt“ Fachkompetenz, konkret Wirtschaftskompetenz, zu erarbeiten und zu demonstrieren – also sich des „traditionellen Markenkerns, der in den letzten Jahren sehr schwach wurde“, wieder zu besinnen, aber auch manche Bereiche, „die Kurz berührt hat“, weiterzuführen, etwa die liberal-konservativen Positionen in der Migrationsfrage. Den Übergang bis zur nächsten Wahl sieht er mit Schallenberg für gesichert.